Wer sich für die einvernehmliche und gewaltfreie Klärung von Konflikten einsetzt, nimmt womöglich zur Zeit ein aggressiveres Verhalten der Menschen wahr. Woran kann das liegen? Inwieweit hat die weltpolitische Lage Einfluss darauf? Ein Gedankenimpuls, der vielleicht einen Anstoss zu einem neuen Umgang mit Aggression führen kann…
Das Weltgeschehen hält uns vermeintlich seit über drei Jahren in einem Ausnahmezustand gefangen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Geopolitisch bewegen wir uns zwischen Pandemie, Krieg, Inflation und Energiekrise. Lokal zeigen Umweltkatastrophen immer wieder verheerende Auswirkungen. Die Staatengemeinschaft, die sich in Europa aus der Nachkriegszeit heraus entwickelt hat, reagiert in solchen «Ausnahmesituationen» mit den bekannten Mitteln: Regeln werden direktiver erlassen und sind von einem höheren Mass an Zwang gekennzeichnet: Bürgerpflichten, Entschuldung durch Geldentwertung, Rationierung, etc.
Auch im Alltag der Menschen, gerade wo sie in hoher Dichte zusammenleben, hat das unmittelbare Folgen auf das Verhalten. Unweigerlich führt mehr Zwang zu mehr Konflikten und oftmals auch zu aggressiverem Verhalten – unabhängig davon, ob sich jemand gehorsam oder ungehorsam verhält. Die Begegnungs- und die Debattenräume werden kleiner, wenn der Staat häufiger anstelle der Bürger entscheidet. Gleichzeitig bietet das Leben – gerade auch in herausfordernden Situationen – genügend Gelegenheiten, anderen (neu oder wieder) zu begegnen und ins Gespräch zu kommen.
«Begegnen» heisst auf Niederländisch «ontmoeten». Daraus kann das Wort «ent-müssen» abgeleitet werden. In einer solchen Begegnung lösen wir uns von äusserem oder innerem Zwang. Wir begegnen unserem Gegenüber freiwillig und ohne Erwartungen. Das sind zwei wesentliche Schlüsselfaktoren, um sich trotz gegenseitigen Unterschieden und Andersartigkeit in einem «Wir» (wieder) zu finden.
Nicht ohne Grund sind die Freiwilligkeit und eine forderungsfreie Haltung auch für das Gelingen einer Mediation wesentlich. Wer sich gezwungen fühlt ins Gespräch zu gehen, dem wird es schwerfallen eigene Erwartungen loszulassen und dem andern zuzuhören. Die Reaktion auf dieses Unvermögen mündet womöglich in aggressives Verhalten. Es sind somit äussere Umstände, die dieses erzeugen. Das können auch Erinnerungen an Aggressionen sein, die jemand durch andere erlebt und selbst verinnerlicht oder gelernt hat.
Was aber wäre, wenn es gerade Gefühle wie Ohnmacht, Wut und Aggression sind, denen wir anders begegnen können, wenn wir uns selbst davon gelöst haben? Vielleicht gelingt es, jemanden selbst in seiner tiefen Verärgerung zu unterstützen, zunächst (wieder) lernen, sich selbst zu hören. Was ruft in dir? Wie willst du anderen begegnen?
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