Seit 10 Jahren gilt der 18. Juni im deutschsprachigen Raum als Tag der Mediation. Es ist auch der Geburtstag des bekannten deutschen Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas. Als Begründer der Diskursethik setzt er auf eine Verständnisorientierung in der Gesellschaft. Die Mediation greift wesentliche Elemente seiner Theorie des kommunikativen Handelns auf.
Habermas’ erkennt, dass es dem Menschen trotz seiner Fähigkeit zur Vernunft nicht gelungen ist, ein gutes Leben in einer gerechten Gesellschaft zu entwickeln. Die Gründe dafür findet er in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Der Mensch verhält sich kommunikativ in der Regel zweckrational, d.h. er versucht möglichst seine Interessen durchzusetzen. Dieses Verhalten zeigt sich auch in unseren gesellschaftlichen und ethischen Diskursen. Wo immer wir uns mit unterschiedlichen (moralischen) Werten und Normen begegnen, kann das zuweilen in hitzige Wortgefechte ausarten. Aktuelle gesellschaftliche Wertediskussionen betreffen zum Beispiel die Frage, wie wir mit modernen Technologien der Medizin oder mit künstlicher Intelligenz umgehen. Auch der Protest der «Klimakleber» wird äusserst kontrovers diskutiert.
Die Diskursethik sucht einen gerechten Rahmen, um sich über das «gute und richtige» Handeln zu einigen. Nach Habermas sind diese Diskurse «herrschaftsfrei» zu gestalten: Das bedeutet, dass keiner der Beteiligten für sich in Anspruch nehmen kann, eine unumstössliche Autorität zu sein. Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt kann sich bei der Suche nach einem Konsens einbringen. Die Mediation bietet dazu ein geeignetes Verfahren und kommt daher auch für die Klärung politischer Konflikte zur Anwendung.
Für den Mediator besteht eine besondere Herausforderung darin, in solchen Diskursen über Werte und Normen neutral zu bleiben. Als Teil der Gesellschaft sind wir in politischen Fragen unabhängig einer Parteimitgliedschaft parteiisch. Nehmen wir mit unserer eigenen Werthaltung – womöglich nur unbewusst – Einfluss auf den Diskurs, werden wir auch Teil der Lösung. Solange wir uns eines Urteils aber enthalten und gleichzeitig das Verständnis unter den Beteiligten fördern, kann der Boden geebnet werden für einen Diskurs auf Augenhöhe – oder nach dem Ideal Habermas’ herrschaftsfrei.
Vielleicht kann der Tag der Mediation uns Anlass geben, sich selbst in einem gesellschaftsrelevanten Konflikt gedanklich in der Rolle des Vermittlers vorzustellen. Welche Sichtweisen sind bekannt? Welche Sicht interessiert uns neben der herrschenden Meinung? Wo fehlt es in der öffentlichen Diskussion noch an Verständnis für andere Meinungen?
Wir freuen uns über das Interesse und den Mut, neue Wege im Umgang mit sich selbst und mit anderen zu erkunden. Verschiedene Angebote der Akademie Sichtweisen laden dazu ein.
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